In einer Studie hat die Allianz-Versicherung festgestellt, dass sich immer mehr Autofahrer von ihrem Smartphone ablenken lassen.
Christoph Lauterwasser ist alarmiert: „Fast die Hälfte aller jungen Autofahrenden schreiben während der Fahrt auf dem Display des Handys”, sagt der Chef-Unfallforscher beim Versicherer Allianz. Das sind immerhin zwei Drittel mehr als noch vor sieben Jahren, als das Unternehmen zuletzt die Gründe für Ablenkung untersucht hat.
Was die Fachleute diesmal besonders beunruhigt: Die Befragten wissen durchaus, dass ihr Verhalten verboten und gefährlich ist. Schon ab zwei Sekunden Ablenkung vom Verkehrsgeschehen steigt schließlich das Unfallrisiko. Gerade jüngere Menschen wollen aber dennoch nicht vom Display in der Hand lassen. Rund jeder Zweite befasst sich mit Whatsapp, Instagram, TikTok und Co – und hält das für normal.
25 Prozent mehr Unfälle
Immer öfter mit tödlichen Folgen: „Ablenkung ist die am meisten unterschätzte Unfallursache auf unseren Straßen“, sagt Psychologe Jörg Kubitzki, Verfasser der Studie. Allein in den ersten zehn Monaten 2022 ist die Zahl aller Ablenkungsunfälle mit Personenschaden gegenüber dem Vorjahreszeitraum um ein Viertel gestiegen. Mehr als 100 Tote und 8.000 Verletzte im Jahr sind belegbar – und die Dunkelziffer ist weit höher: Denn nur eine nachweisbare Ablenkung wird durch die Behörden erfasst. Zehn Sekunden Daddeln hinterm Lenkrad bleibt da meist unerkannt, wenn´s gekracht hat.
Die Studienverfasser fordern deshalb, dass die Ablenkung durch moderne Technik ebenso geächtet, erfasst und verfolgt wird wie Trunkenheit am Steuer. Denn dass die Fahrerinnen und Fahrer sich mit höherem Alter weniger von den technischen Möglichkeiten ablenken lassen, ist nicht zu erwarten. Im Gegenteil: Gerade in neueren, besser ausgestatteten Fahrzeugen der älteren Kundschaft ist noch mehr Technik verfügbar. Und die Systeme schaffen oft neue Ablenkungs-Fallen. Radios oder Klimaanlagen mit Tasten oder Drehreglern verschwinden dort nämlich immer öfter in Untermenüs auf dem Touchscreen in der Mitte des Armaturenbretts. Mehr als die Hälfte aller Autofahrer mit Touchscreen-Steuerung berichten inzwischen, mitunter länger mit der Bedienung befasst oder vom System irritiert zu sein – doppelt so viele wie noch 2016. Und da waren die Touchscreens eher kleiner und schlechter zu bedienen.
Der Bordcomputer ist der „Schurke am Stück“
Und selbst wenn manche Funktion am Lenkrad oder per Stimme zu bedienen ist, schauen viele doch noch mal am Bildschirm nach, ob der Befehl auch angekommen ist, so Kubitzki: Es sei ein Mythos, dass man mit Verlagerung der Smartphone-Inhalte auf den Touchscreen alle Gefahren ausmerzt. „Sie machen nichts im Auto, ohne Augen oder Gedanken abzuwenden.” Das Urteil des Experten: „Der Bordcomputer ist der Schurke im Stück.” Dabei zeigt sich fatalerweise, dass die Menschen auch gar nicht so reserviert gegenüber assistierten Fahrfunktionen sind wie manchmal behauptet. Sie nutzen Spurhaltehelfer, Abstandhalte-Tempomat oder Stau-Assistent vielmehr, um noch ausgiebiger in der Spotify-Liste oder dem Insta-Channel zu schmökern. Augen weg und durch – sogar die Hände können ja selbst in der Kurve ein paar Sekunden ganz vom Steuer bleiben.
Wenn die Assistenten missbraucht werden
Wer beispielsweise den Spurhalteassistenten zu solchen fahrfremden Aktivitäten missbrauche und dabei beide Hände für längere Zeit vom Lenkrad nimmt, erhöht sein Unfallrisiko um 56 Prozent. Wird das Autoradio über den Bordcomputer bedient, verdoppelt sich das Risiko sogar. Dass das Rad der Technik nicht wieder in Richtung eines spartanischen Cockpits a là VW Käfer zurückgedreht werden kann, ist natürlich auch den Forschern und Versicherern klar. Aber wenigstens eine herstellerübergreifende Vereinheitlichung mancher Bedienfunktionen und grundlegenden Menüstrukturen liegen den Fachleuten am Herzen. Schließlich wechseln die Menschen in Zeiten von Car-Sharing oder Auto-Abo auch immer öfter die Marke. Das aber erhöht die Gefahr im Irrgarten der Infotainment- oder Komfort-Funktionen.
Innenraumüberwachung bald Pflicht
Besonders, wenn die Designer der Oberflächen allzu verliebt in ihre Gestaltung sind. „Erforderlich oder nur grafische Aufhübschung?” Das fragen neben den Studien-Machern auch die Gesetzgeber der EU. Die Brüsseler Bürokratie nämlich ist am Ende für die Zulassung der tausend neuen Technik-Möglichkeiten an Bord zuständig. Und Behörden, Kommission und Parlamentarier auf europäischer Ebene sind nicht untätig in Sachen Ablenkung. Die Innenraumüberwachung ist bei neu auf den Markt kommenden Fahrzeugen Pflicht, ab 2024 sogar in allen Neuwagen. Und eine Black-Box registriert wie im Flugzeug bei einem Unfall „ereignisbezogene Daten“. Beides zusammen könnte Rückschlüsse auf abgelenkte Fahrer ermöglichen – und auch auf die Schuldfrage Einfluss haben.
Es besteht noch Überzeugungsbedarf
Die überwachten Menschen am Steuer finden diese Aussicht nicht so prickelnd wie ein lustiges Insta-Posting. Nur 39 Prozent der Befragten stimmen einer Kamera- oder Infrarotabtastung von Augen, Gesicht und. Kopf zu, bei der die Technik anonymisiert nur Ablenkung erkennt. „Für das Driver Monitoring besteht noch Überzeugungsbedarf“, sagt denn auch Lauterwasser. Er hofft auf die Kraft der Überzeugung: „Es soll dabei nicht um Bevormundung gehen, sondern um Unterstützung.” Wenn Fahrerinnen und Fahrer bei Ablenkung gewarnt werden, könne schon diese Rückmeldung zu einer positiven Verhaltensänderung beitragen: „Das sollten wir nutzen, um den Straßenverkehr für uns alle sicherer zu machen.” Auch wenn dann wieder ein Piep oder Blinken mehr im Auto auftaucht. SP-X/Titelfoto: Allianz
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