Autonom fahrende Autos krempeln das bestehende Verkehrssystem vollständig um, schreibt unser Gastautor Peter Löck: „Niemand wird mehr selbst ein Auto besitzen.“
Neue Mobilitätsangebote werden den konventionellen öffentlichen Verkehr an den Rand drängen, bis er näher am Kunden arbeitet als bisher. Vor inzwischen knapp dreißig Jahren stand ich auf dem Empire State Building und was ich von dort oben sah, entzündete einen Gedanken, der mich seitdem nicht mehr verlassen hat: Hunderte von gelben Punkten bewegten sich in den Straßen New Yorks, stoppten, bewegten sich weiter, hielten, fuhren, scheinbar chaotisch, aber von dort oben ergab alles einen Sinn. Wie rote Blutkörperchen in unserem Kreislauf nahmen sie Fahrgäste als Sauerstoffmoleküle auf und gaben sie an anderen Orten wieder ab, nahmen wieder auf, gaben wieder ab, alles in ständiger Bewegung.
Mit offenen Scheiben
Andere Autos verschwanden fast unter der Übermacht der Yellow Cabs, sie waren nur für spezielle Dienste zu gebrauchen. Um sich als Person in der Stadt zu bewegen, waren sie einfach unpraktisch. Der Parkplatz in einer Tiefgarage Manhattans kostete so viel wie die Miete meiner ganzen Studenten-WG in Göttingen. Draußen ließ man die Autotür auf, damit die Radiodiebe nicht auch noch die Scheibe einschlugen und noch größeren Schaden verursachten. Die Taxifahrt kostete auf kurzen Strecken nur die sprichwörtliche Handvoll Dollar. Tagsüber war die Subway sicher genug, und mit einem Dollar kam man zügig voran. Ein eigenes Auto diente einzig und allein der Repräsentation, musste entsprechend teuer sein und war ansonsten völlig nutzlos.
Das zufällige Schwirren der gelben Punkte war auf seine Art viel sinnvoller: Es gehorchte der Anforderung der Kunden, jetzt von hier fahren zu wollen, signalisiert durch Herbeiwinken oder Anrufen. Sie waren immer in Bewegung, parkten nicht, sondern setzten die Kunden dort frei, wo sie wollten und fuhren davon, um mit etwas Glück gleich wieder ein Molekül zu finden. Nach den besagten dreißig Jahren kenne ich die erweiterten Realitäten nun genauer: In vielen Städten und vor allem auf dem ländlichen Raum sind wir weit von diesem Idealzustand entfernt.
Geringe Wertschätzung der Fahrer
Die Fahrer wollen und sollen anständig bezahlt werden, leiden aber unter miesen Arbeitszeiten, ungesunden, teilweise gefährlichen Bedingungen, erreichen maximal prekäre Löhne und das vor allem bei sehr geringer Wertschätzung in der Gesellschaft.
Der Kunde zahlt quasi die gesamte Bereitschaftszeit, Anfahrt, Zielfahrt und Rückfahrt des Kutschers, woraus sich vergleichbar horrende Preise ergeben.
In der Konsequenz zieht man alle anderen Verkehrsmittel vor und nimmt deren Unannehmlichkeiten in Kauf:
- Eigenes Auto mit hohem Aufwand für Tanken, Parken und Unfallrisiken
- Car-Sharing mit dem Auffinden des Fahrzeugs (free floating) oder dem Weg zum Stellplatz und Rückgabe (Station)
- Parkplatzsuche (in Hamburg 40 % des Innenstadtverkehrs) und Gebühren
- Nass werden auf dem Fahrrad, Pedelec oder Scooter
- Umwege über festgelegte Strecken und Umstiege, Gedränge, Geruch und kryptische Tarife beim öffentlichen Transport
Insbesondere im suburbanen Raum schrumpfen die Alternativen auf das eigene Auto zusammen. Aber was wäre, wenn bei Chauffeurdiensten wie Taxi, Uber, Lyft kein Chauffeur mehr an Bord wäre? Ohne Lohnkosten ließe sich die Fahrt billiger als mit dem eigenen Auto anbieten, weil wegen höherer Auslastung die Fixkosten anteilig zurückgehen.
Automatisierung par excellence
Was wäre, wenn ich ein Car-Sharing-Fahrzeug zu mir rufen und wieder wegschicken könnte? Da verschmelzen zwei ursprünglich verschiedene Geschäftsmodelle. Miete ich einen Fahrer mit Wagen, einen Wagen mit Fahrer, einen Wagen ohne Fahrer? Das ist ohne die Komponente “Fahrer” eigentlich das Gleiche. Entgegen vielerlei Ansicht wird es nicht mehr lange dauern, bis Autos sich komplett autonom auf unseren Straßen bewegen können (mehr dazu bei Lex Fridmann, MIT). Die Entwicklung ist längst in die Exponentialphase gegangen. Autonome Autos finden ihren Weg zum Kunden allein, kehren zurück zur Basis oder fahren zum nächsten Auftrag und das alles 24/7 ohne Pause, Krankheit oder Urlaub. Automatisierung par excellence, wie der Pack- oder Schweißroboter in der Industrie.
Menschen werden das Auto nur noch selbst lenken, wenn es ihnen besondere Freude macht und nur solange sie es noch dürfen. Zuvor Benachteiligten, die aus körperlichen, finanziellen oder rechtlichen Gründen nicht fahren konnten oder durften, haben neuen Zugriff zu individueller Mobilität (darunter alte Menschen, Kinder, Sehbehinderte).
Entsprechend sind sinkende Preise die erste realistische Chance, dem eigenen Auto auch für die Landbevölkerung Paroli zu bieten. Ein bisher kaum erreichbarer Markt für Verkehrsdienstleister öffnet sich.
Überlastetes Straßennetz
Der Beruf des “Fahrers” wird verschwinden, er wird ersetzt durch den Begleiter, der Menschen hilft, die autonome Fahrzeuge auf Abruf nicht ohne Hilfe nutzen können. Die Fahrdienstleistung wird zur Mobilitätsdienstleistung, komplexer und verzahnt mit Leistungen unabhängig vom Transport. Rufen, Abholen, Einsteigen, Gepäck verladen, Einkaufen, Termin vereinbaren und vieles mehr, sei kreativ. Entsprechend werden Geschäftsmodelle, die auf der reinen Auftragsvermittlung beruhen, auf kurz oder lang neue Schnittmengen mit Annexleistungen bilden müssen, um ausreichende Margen zu erzielen. Gibt es nun weniger Verkehr durch autonome Autos? Ja, wenn bis in die wirtschaftlichen Haarspitzen gedacht wird.
Zu Recht gibt es gegenüber alternativen Antrieben, wie der Elektromobilität den Vorwurf, dass es durch den Wechsel des Antriebsstrangs nicht das Problem der massiven Überlastung unseres Straßennetzes gelöst wird. Das war auch nie das Versprechen. Genau so verhält es sich auch bei autonomen Fahrzeugen. Ein Austausch eins zu eins bringt, wenn überhaupt, nur marginale Vorteile durch optimiertes Fahren und Parken. Weniger Verkehrsdichte gibt es nur durch weniger fahrende Fahrzeuge zur gleichen Zeit. Bei steigendem Mobiltätsbedarf geht das nur durch höhere Auslastung. Bisher dominiert die Meinung, es müssten durchschnittlich mehr Personen in den Autos sitzen, zum Beispiel durch Ride Sharing. Ich nenne es hier mal die intensive Lösung. Das ist natürlich richtig.
Jeder Trip aktiviert ein Fahrzeug
Doch hier möchte ich die Perspektive ein wenig weiten und die extensive Lösung hinzufügen. Dazu ein Beispiel: Ich fahre von zu Hause zum Sport und nach etwa drei Stunden zurück.
Was nun, wenn jemand anderes im zur gleichen Zeit in der Nähe von Bereich “Sport” ein Wagen braucht? Aktuell bringt er ein neues Fahrzeug auf die Straße und bringt es auch wieder zurück, anstatt einfach “meins” um die Ecke kommen zu lassen. Dieser Vorgang potenziert und verkettet sich ins Vielfache. Jeder einzelne Trip aktiviert ein neues Fahrzeug auf den Straßen und verursacht durch das Einbringen in den eigentlichen Verwendungsbereich Verkehr und erzeugt durch Abstellen vor Ort und Zurückstellen danach den Parkdruck. Ein Vielfaches der eigentlich notwendigen Autos wird verwendet und hin und her bewegt und abgestellt. Autos auf Abruf können hingegen diese Situation entspannen, aber nur wenn sie den privaten Besitz ersetzen.
Hier kommen nun kommerzielle Angebote zum Zuge. Sei es als übergeordnete Plattform zur Vermittlung des eigenen Autos oder Flottenanbieter: Skaliert auf die überwiegende Mehrheit der Autos verstärkt sich der Effekt, dass die „Anschlüsse“ stetig besser werden, wenn der Pool an Aufträgen zunimmt. Ein immer größerer Teil fährt besetzt dorthin, wo er sowieso gebraucht wird, wenn nicht, dann vielleicht in der Nähe. So wird aus dem reinen hin und her ein hin, hin, her, hin, her, her…
Dinge von oben betrachten
Dadurch, dass die Fahrzeuge effizienter genutzt werden können Flottenanbieter ihre Preise sogar unter die Kosten eines privaten Autos senken und damit wiederum die Nachfrage erhöhen. Ein selbstverstärkender Prozess wird in Gang gesetzt, bis kein finanzieller Grund mehr für das eigene Auto spricht. Exkurs: Es ist kein Zufall, dass große Plattformbetreiber und Hersteller in den Markt drücken, und Uber, Lyft und Tesla in der Entwicklung autonomer Systeme weit voraus sind. Die extensive Lösung kann also die auch Auslastung der rollenden Fahrzeuge verbessern und für weniger Verkehr sorgen.
Aber auch andere Verkehrsmittel werden an den Rand gedrängt. Wenn das Preisargument nicht mehr ausreicht, um oben genannte Unannehmlichkeiten aufzuwiegen, werden immer weniger Menschen öffentliche Verkehrsmittel nutzen. Sie müssen dann, wie zum Beispiel die Subway, schneller sein oder bislang ungedachten Mehrwert bieten, um weiter bestehen zu können.
„No, the truth is not „somewhere in between“. Don’t be so lazy.“ Michael Liebreich
Blutkreislauf als Vorbild
Ansonsten werden die positiven Effekte der extensiven Lösung durch den Verlust bei der intensiven Lösung eliminiert, und es sind wieder mehr, anstatt weniger Fahrzeuge zur gleichen Zeit unterwegs. Manchmal muss man Dinge aus der Ferne, am besten von Oben betrachten. Oder anders gesagt: Ein scheinbar chaotisches, aber organisches System, wie unser Blutkreislauf kann als Vorbild für ein optimales Transportsystem dienen. Das private Auto wird zum Hobby. Der Markt für Verkehrsdienstleistungen wird größer. Fahrdienste und Car-Sharing werden verschmelzen und ihren Marktanteil drastisch erhöhen. Öffentlicher Verkehr wird sich in seinen Stärken spezialisieren und neuen Mehrwert generieren müssen. Fotos: Unsplash/Volvo
In Zusammenarbeit mit
Wie war die Fahrt? Klingt wie eine langweilige Frage, ist es aber nicht: U-TURN Better Mobility baut auf eben diesen Erfahrungen der Community auf. Für das Aufbrechen eines so komplexen Systems wie der Mobilität ist als Erstes ein neuer Denkansatz nötig. Eine Lösung kann nicht von den Dienstleistern kommen, sondern nur von den Nutzern selbst. U-TURN entwickelt eine neue User Plattform über alle Verkehrssysteme hinweg aus Nutzersicht, für eine multimodale und intermodale App. Stell Dir vor, Du kommst von Tür zu Tür mit einem Klick, so wie Du willst, immer mit dem gültigen Ticket. Also, noch einmal: Wie war die Fahrt? Mehr dazu…
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