Scott Addict e-Ride: Das Rennrad mit Schummeltechnik ist etwas für Anspruchsvolle. Dafür ist es nicht ganz billig.
In nahezu allen Fahrradsegmenten hat sich der Pedelec-Antrieb etabliert und in die Herzen vieler Biker gefahren. Keine Frage: E-Bikes sind in. Eine Ausnahme bilden die Rennräder – macht die elektrische Unterstützung bei ihnen Sinn? Zumal sich das E-Paket an Bord auf das Gewicht auswirkt.
Dieser Kardinalfrage sind wir praktisch nachgegangen. Mit dem neuen Addict eRide von Scott – einer feinen Fahrmaschine für anspruchsvolle, jedoch nicht zwingend fitte Sportradler. Letztere Kategorie ist jedenfalls auf uns zutreffend, weshalb der Scott-Neuzugang uns eine erfreulich positive Antwort auf die zentrale Sinnfrage geben konnte. Soviel vorweg: Auch in reinen Sportgeräten hat die Schummeltechnik ihre Berechtigung.
Topversion: Rund 9.500 Euro
Optisch macht das neue Modell in seiner rund 9.500 Euro teuren, überwiegend aus Carbon gefertigten Topversion mit elektronischer Kettenschaltung einiges her. Neben einer Mattlackierung, die zwischen Grün und Violett changiert, fällt noch das cleane Design ins Auge. Kabel oder Züge gibt es nicht. Zumindest nicht sichtbar. Stattdessen wurde alles optisch Störende in die einteilige Lenker-Vorbau-Einheit integriert. Damit diese einzigartige Innenverlegung nicht beim Lenken stört, hat Scott eine smarte Lösung zur frei beweglichen und verschleißfreien Kabelführung im Lenkradinneren ersonnen.
Nur 11 bis 12 Kilo Gewicht
Dank der Rahmenkonstruktion aus Carbon sowie den aus gleichem Material gefertigten Hochprofilfelgen ist das Addict eRide außerdem extrem leicht. Beim Handtest wirkt es dann allerdings wie ein schweres Leichtbaurad. Schuld sind der im Unterrohr integrierte 252-Wh-Akku und der im Hinterrad versteckte Mahle-Motor. Doch alles ist relativ: Das ausstattungsabhängig 11 bis 12 Kilogramm wiegende Addict E-Ride markiert in der E-Bike-Szene einen absoluten Tiefpunkt in puncto Gewicht.
Als wir einer Rennrad-affinen Freundin ein Bild des edlen Test-Flitzers per WhatsApp schicken, schlägt sie umgehend eine gemeinsame Rennradtour vor. Die Dame setzt sich in ihrer Freizeit häufiger auf ihrer Rennmaschine, um auf längeren und kraftraubenden Touren ihre Fitness zu stählen. Mit dieser können wir nicht mithalten, doch dank E-Antrieb müssen wir auch nicht. Wir sagen zu.
Es geht auch ohne E-Schub
Während der Tour an einem sonnigen und windigen Herbsttag im Flachland bleibt der einfach per Knopfdruck im Rahmen aktivierbare E-Antrieb vorläufig ausgeschaltet. Auf dem Rad nehmen wir eine betont sportliche, doch trotz Freizeitkleidung und Hängebäuchlein sogar durchaus annehmbare Haltung ein. Ebenfalls gut klappt die elektronische Gangschaltung, die auf leichtes Antippen kleiner Wippen an den Bremshebeln mit feinem Servosurren und einer anschließend vielleicht passenderen Übersetzung reagiert. Das Tempo während der Tour, zumeist fahren wir über 25 km/h, gibt die Freundin vor. Im Windschatten können wir problemlos folgen. Doch nach nicht einmal 10 Kilometer fühlen sich die Oberschenkelmuskeln – auch aufgrund einer beharrlich steifen Brise – bereits schwer an.
Das Loch überwunden
Die Freundin empfiehlt, mit einer leichteren Übersetzung und entsprechend höherer Trittfrequenz zu fahren, was tatsächlich für Linderung sorgt. Doch nach etwa 35 stramm gefahrenen Kilometern reißt an einer langgezogenen Steigung bei Gegenwind der Kontakt zur Vorderfrau ab und damit auch der Geduldsfaden, weiter allein mit Muskelkraft zu fahren. Die Versuchung war schon mehrmals da. Doch erst jetzt lassen wir uns durch die per kurzen Fingerdruck aktivierte E-Maschine im Hinterrad nahezu lautlos den Berg hinaufschieben. Plötzlich geht es wieder lustvoll statt leidend voran. Ohne E-Schub wäre eigentlich eine Erholungspause nötig gewesen, doch die kann jetzt warten. Problemlos schließen wir wieder auf.
Reichweite: Kein Problem
Trotz des Schwächeanfalls und dem seither dauerhaft aktivierten E-Antrieb fahren wir auch die restlichen 15 Kilometer weitgehend schneller als 25 km/h und damit praktisch zumeist ohne E-Unterstützung. Ob eingeschaltet oder deaktiviert – der Motor im Hinterrad scheint dem Temporausch jenseits der 25 km/h in keiner Weise im Wege zu stehen. Am Ende der rund 50 Kilometer langen und aufgrund mehrerer Pausen mit durchschnittlich 22 km/h gefahrenen Tour wurde dieser nur selten gefordert, weshalb sich die Reichweitenfrage angesichts der im Vergleich zu vielen anderen E-Bikes recht klein dimensionierten Batterie eigentlich nicht stellt. Praktisch wird man ohnehin nur selten die Unterstützung des Motors abrufen, weshalb die 252-Wattstunden auch für lange Touren reichen sollten. Wer auf Nummer sicher gehen will, kann bei Scott noch einen 208-Wh-Range-Extender für den Getränkehalter bestellen. Laut Hersteller lassen sich damit bei kleinster Unterstützungsstufe 120 Kilometer Reichweite und 2.200 Höhenmeter bewältigen.
Immer eine Reserve in petto
Eine Woche nach der ersten Tour ging es ein zweites Mal auf eine 50-Kilometer-Runde bei Windstille, die wir komplett ohne Unterstützung meisterten. Der entscheidende Vorteil des E-Antriebs war allerdings auch hier, dass man sich trotz mäßiger Kondition spontan ins Rennrad-Abenteuer stürzen kann, ohne Angst haben zu müssen, sich dabei zu überschätzen. Falls einem die Puste ausgeht, das hat sich auf der ersten Tour gezeigt, bleibt man nicht frustriert auf der Strecke beziehungsweise auf Wunsch entspannt in der Komfortzone. Jedenfalls kann ein E-Antrieb so die Hürde für den Einstieg oder Wiedereinstieg in den Rennradsport niedriger hängen. Hoch ist jedoch die Hürde beim Preis. Die sinkt im günstigsten Fall beim Addict eRide auf 4.500 Euro, wenn man bereit ist, auf etwas Carbon und E-Schaltung zu verzichten. Immerhin bekommt man für dieses Geld zwei Seelen: eine fein austarierte Radsport-Fahrmaschine und außerdem ein E-Bike. Mario Hommen/SP-X
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