Der Münchner Supersportler S 1000 RR wurde zum Modelljahr 2019 neu erfunden, hatte aber Startprobleme. Nun legt er richtig los.
An diesem Motorrad fehlt doch was. Doch was? Grübelnd schreiten wir um den Neuzugang in der heimischen Garage herum. Vor uns steht die BMW S 1000 RR und schaut grimmig aus ihren LED-Augen. Man sieht ihr die Kraft schon an, die sie auf die Straße zu bringen vermag, und wir sind gespannt, wie sie das zu Wege bringen wird, denn schon die Vorgängerinnen – bis hin zur ersten S 1000 RR im Jahre 2010 – schienen das Maß aller (Rennsport-)Dinge zu sein. Was soll da noch kommen?
Mehr Dampf in der Mitte
Werfen wir also einen Blick auf die S 1000 RR des Baujahres 2019/2020. Sie hat mit jenen Ahnen nur noch wenig gemein – die kompromisslose Supersportlichkeit freilich ausgenommen. Ansonsten ist sie ein komplett neues Bike. Sogar den Motor haben die Ingenieure neu aufgebaut. Er verfügt nun über satte 207 PS und variable Steuerzeiten. Was bedeutet, dass die Einlassnockenwelle bei niedrigen Drehzahlen mit kurzen Öffnungszeiten für satten Durchzug und eine andere mit hohen Nockenprofilen für hohe Drehzahlen zuständig ist. Schaltnockentechnik nennen das die Erfinder. Zu erklären, wie das Umschalten im Detail funktioniert sparen wir uns an dieser Stelle.
Gute Dosierbarkeit
Das Ergebnis ist messbar. Gerade in der Drehzahlmitte zwischen 5.000 und 8.000 Touren drückt die Neue mehr Power auf die Straße als die Vorgängerin; angesichts des Überflusses an Kraft spürt man diese Verbesserung indes allenfalls auf der Rennstrecke. Dieses Vergnügen war uns leider nicht vergönnt. Auf jeden Fall ist auch dieses Triebwerk ein Spektakel, dank der vier Fahrmodi Rain, Road Dynamic und Dynamic pro lässt sich die Kraft gut dosieren. Insbesondere die präzise Dosierbarkeit beim Gasanlegen macht die BMW auch auf Landstraßen gut fahrbar – man hat ja nicht ständig eine Rennstrecke zur Verfügung.
Noch kompakter
Um den Motor herum wurde das Fahrwerk grundlegend neu aufgebaut und die Ergonomie verändert. Doch keine Angst, die BMW gehört immer noch zu jenen Bikes, mit denen sich auch eine Landstraßentour absolvieren lässt, ohne dass man nachher zum Physiotherapeuten muss. Dennoch: Was uns schon auf den ersten Kilometern aufgefallen ist: Die neue S 1000 RR erinnert in ihrer Kompaktheit stark an einen 600er-Supersportler, eine Klasse, die fast ausgestorben ist. Sie wirkt auch dementsprechend handlicher. Ist man 1,90 Meter groß, dann muss man die Beine noch ein wenig weiter zusammenfalten, um die Füße auf die Fußrasten zu bekommen. Der Wunsch, bei hohen Geschwindigkeiten Windschutz hinter der Scheibe zu finden, bleibt auf jeden Fall unerfüllt.
Länge läuft
Dabei wäre es schon hilfreich, bei Tempi über 240 km/h ein wenig Schutz zu finden; allein auf dem recht harten Sitzbrötchen ganz nach hinten zu rutschen und sich möglichst flach zu machen, bringt gerade so viel, dass man nicht vom Bike geweht wird. Und trotz der kompakten Abmessungen hat man nie das Gefühl, das Motorrad verliere seine Ruhe. Im Gegenteil: Der Radstand hat im Vergleich zum Vorgänger drei Millimeter auf 1441 mm zugelegt. Und wir wissen ja: Länge läuft. Dass die Dämpfung elektronisch geregelt wird, darf man mittlerweile als selbstverständlich ansehen, hier hat BMW ein wenig nachgebessert und novelliert.
Ab in tiefe Schräglagen
Vertrauen schenkt die Neue auch von dem Moment an, in dem sie die erste Kurve in Angriff nimmt. Das Gefühl für das Vorderrad ist exzellent, das Vertrauen führt den Piloten schnell in tiefe Schräglagen – auch dank der bekannt guten Pirellis Supercorsa, hinten in 200er Breite. Also schnell wieder aufgerichtet und auf zur nächsten Kurve. Die Gänge wechseln dank des wunderbaren (und nochmal verbesserten) Schaltassistenten flugs hoch und wieder runter, die Bremsen fangen die enorme kinetische Energie wirkungsvoll wieder ein. Der Motor schreit seine Freude kernig, aber nicht übertrieben laut hinaus.
Eine Sache der Einstellung
Ein weiterer großer Fortschritt stellt das TFT-Display dar. Es ist immer einwandfrei ablesbar, gibt allzeit jene Informationen, die man gerne möchte und erlaubt – gemeinsam mit dem Drehrad an der linken Armatur – den Zugang zum Bordcomputer, der nicht mehr wegzudenken ist. Über ihn lassen sich die zahlreichen elektronischen Helferlein wie Traktionskontrolle (4-fach), Wheeliekontrolle (3-fach), Motorbremsmoment (3-fach) und Beschleunigungskontrolle einstellen und bei Bedarf auch abschalten.
Für die Rennstrecke stellt BMW nunmehr drei Race-Modi zur Verfügung, die eine Abstimmung je nach Fahrerwunsch anbieten, was wir aus erwähnten Gründen aber nicht überprüfen konnten. Sowieso ist der Führerschein auf einem Supersportler wie der S 1000 RR in ständiger Gefahr, denn bei Beschleunigungswerten von 3,1 Sekunden von Null auf 100 km/h oder 7,0 Sekunden auf 200 km/h hat man jedes Limit schnell vergessen – so man das Schild überhaupt gesehen hat. Als Topspeed gibt BMW 306 km/h an. Auch dies haben wir nicht überprüft.
Ab 18.900 Euro
Das neue sportliche Meisterwerk aus München sollte eigentlich schon im Sommer des vergangenen Jahres ausgeliefert werden, doch stellte sich heraus, dass eine Ölbohrung nicht richtig gefertigt wurde und ein Getriebeschaden drohte, so dass diese Saison die erste richtige für den neuen “Beamer” ist, wie er in einschlägigen Internet-Foren genannt wird.
Günstig ist so viel präzise Performance natürlich nicht. Der Grundpreis von 18.900 Euro dürfte nur ein Richtwert sein, es ist davon auszugehen, dass keine S 1000 RR „nackt“ über den Ladentisch, der ja zum Glück nun wieder geöffnet hat, geht. Vielmehr sollte man mit deutlich über 20.000 Euro planen, auch um irgendwann mal einen Käufer zu finden. Weniger wichtig ist der Verbrauch: Ich kam auf durchschnittlich 6,3 Liter. Die Wartungsintervalle liegen bei 10.000 Kilometer.
In einem Punkt bin ich heute aber genauso weit wie vor zehn Jahren. Es ist kaum vorstellbar, dass dieses Motorrad sich noch einmal verbessern lässt. Und ich weiß: Die Ingenieure werden mich wieder eines Besseren belehren. Übrigens: Nach einigen Tagen ist mir aufgefallen, was dem Supersportler fehlt: das Rücklicht. Dieses und das Bremslicht sind in die LED-Blinker integriert. Noch eine Premiere. Heinz May
BMW S 1000 RR (2020) – Technische Daten
Motor: Flüssiggekühlter Vierzylinder-Viertaktreihenmotor, vier Ventile pro Zylinder, Hubraum 999 ccm, Leistung 152 kW/207 PS bei 13.500/min, Drehmoment 113 Nm bei 11.000/min, Sechsganggetriebe, Kette.
Fahrwerk: Brückenrahmen aus Aluminium, Upside-Downgabel Ø 45 mm, verstellbare Federbasis, elektronisch verstellbare Zug- und Druckstufendämpfung, hydraulischer Lenkungsdämpfer, Zweiarmschwinge aus Aluminium, verstellbare Federbasis und Zug- und Druckstufendämpfung, Doppelscheibenbremse vorn 320 mm, Vierkolben-Festsattel; hinten 220 mm, Einkolben-Schwimmsattel, Traktionskontrolle, Wheeliekontrolle, Kurven-ABS.
Maße und Gewichte: Radstand 1.441 mm, Sitzhöhe 830 mm, Gewicht vollgetankt 201 kg, Tankinhalt 16,5 Liter.
Messwerte: Höchstgeschwindigkeit 306 km/h, Beschleunigung 0 – 100 km/h: 3,1 sek, Testverbrauch: 6,3 Liter/100 km.
Preis: 18.900 Euro.
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