Viele Vorhaben für die Mobilitätswende in Kommunen wird derzeit noch von Gesetzen ausgebremst. Was sich ändern muss.
Um die Klimaziele im Verkehrssektor zu erreichen, braucht es eine Änderung der Mobilität in Deutschland. Viele Kommunen zeigen ein hohes Interesse, mehr Rad- und Fußverkehr auf den Straßen umzusetzen und somit für ein besseres Klima zu sorgen – was auch ein aktuelles Thema der Fahrradleitmesse Eurobike in Frankfurt ist (13. bis 17. Juli). Doch aktuell steht die Gesetzgebung im Weg. Die Bundesregierung hat zwar angekündigt nachzubessern, aber so einfach scheint das nicht zu sein. Der pressedienst-fahrrad erklärt, woran es noch hakt.
Stein des Anstoßes ist das Straßenverkehrsgesetz, kurz StVG. Bei der Umsetzung von infrastrukturellen Mobilitätsmaßnahmen fühlen sich Kommunen durch dieses Gesetz eingeschränkt. Warum? Das Ziel des StVG ist es, die „Flüssigkeit des Verkehrs“ sicherzustellen. Historisch bezieht sich das auf den Pkw-Verkehr. Das bedeutet in der Praxis: Der Pkw-Fluss darf nur eingeschränkt werden, wenn eine konkrete lokale Gefahr vorliegt. „Für eine Neuordnung des Verkehrs, z. B. das Bauen von mehr Radwegen oder Radspuren auf der Fahrbahn, ist oft ein aufwendiges Nachweisverfahren für Gefahrsituationen notwendig. Deshalb ist es aktuell nicht möglich, schnell die Mobilität vor Ort großräumig konzeptionell umzugestalten“, erklärt Andreas Hombach vom Fahrradparksystemanbieter WSM, der viel mit kommunalen Entscheidungsträger/innen zu tun hat.
Kein Gesetz für klimafreundlichen Verkehr
Ein Rechtsgutachten der Stiftung Klimaneutralität, Agora Verkehrswende und der Rechtsanwaltskanzlei Becker/Büttner/Held stellte fest, dass keine gesetzliche Regelung im Straßenverkehrsrecht bislang das Ziel verfolgt, den Verkehr klima- und umweltfreundlicher zu gestalten. Insbesondere Paragraf 45 der Straßenverkehrsordnung (StVO) ermögliche das Ergreifen von Maßnahmen nur dann, wenn konkrete örtliche Gefährdung nachgewiesen wird. Eine nachhaltige städtebauliche Entwicklung sei demzufolge von Seiten des Gesetz- und Verordnungsgebers bislang nicht gewollt, so das Rechtsgutachten.
Koalitionsvertrag sieht Änderung vor
Die aktuelle Bundesregierung scheint eine Änderung offenbar anzustreben. Im Koalitionsvertrag heißt es: „Wir werden Straßenverkehrsgesetz und Straßenverkehrsordnung so anpassen, dass neben der Flüssigkeit und Sicherheit des Verkehrs die Ziele des Klima- und Umweltschutzes, der Gesundheit und der städtebaulichen Entwicklung berücksichtigt werden, um Ländern und Kommunen Entscheidungsspielräume zu eröffnen.“ Will heißen: Die Kommunen bekommen mehr Selbstbestimmung, welche Art von Mobilität sie haben möchten. Nicht das eine Verkehrsmittel soll in Zukunft im Vordergrund stehen, sondern der Mobilitätsmix.
Tempo 30 oft schwierig
Ein oft genanntes Beispiel ist die flächendeckende Einführung von Tempo 30 in Innenstädten. Über 160 Kommunen haben sich mittlerweile einer Initiative des Deutschen Städtetages angeschlossen, um mehr Handlungsspielräume bei der Anordnung von Tempo 30 innerorts zu bekommen. Derzeit müsse im Hauptstraßennetz für jeden einzelnen Straßenabschnitt eine Begründung erstellt werden, was die Umsetzung und Verfahren deutlich erschwere. „Einfache Regelungen ermöglichen es, schnelle Maßnahmen zu schaffen“, urteilt Prof. Dr. Martin Haag, Bürgermeister für Stadtentwicklung der Stadt Freiburg bei einem parlamentarischen Abend des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) im Mai. Freiburg hat beispielsweise in den letzten Monaten mehr Tempo-30-Zonen errichtet. Haag stellt aber auch klar, dass flächendeckend Tempo 30 auch ein Ausbremsen des Öffentlichen Personennahverkehrs bedeute. Deshalb müsse genau abgewogen werden, an welchen Stellen eine Neuregelung nötig sei. Das könnten die Verantwortlichen vor Ort weitaus besser als der Gesetzgeber in Berlin.
Druck auf Politik weiter erhöhen
Verbände wie der ADFC wollen deshalb den Druck auf die Politik weiter erhöhen, schneller zu handeln und die Gesetzesänderung voranzubringen. Der Fahrradverband schlägt zusätzlich eine Innovationsklausel vor. Diese soll ermöglichen, dass Kommunen Verkehrsversuche machen können, die nicht dem bestehenden und oft überalterten Regelwerk entsprechen. Innovationen für eine bessere Mobilität würden aktuell durch Festhalten an alten Regeln unterdrückt. Kommunen bräuchten aber rechtliche und auch finanzielle Sicherheit, um langfristig Projekte für eine bessere Infrastruktur umzusetzen. Für den Architekten und Stadtplaner Stefan Bendiks sind für die Mobilitätswende drei Faktoren entscheidend, die von der Politik auf Bundesebene geklärt werden müssen: ein gutes Regelwerk, ausreichend Budget und kompetentes Personal in der Verwaltung.
Kommunale Verantwortliche fehlen
Bei allen drei Punkten gibt es aktuell noch Verbesserungsbedarf. In vielen Kommunen sind Verwaltungsmitarbeiter/innen mit der fahrradspezifischen Verkehrsplanung nur wenig vertraut. Sie weiterzubilden wird eine wichtige Aufgabe für eine erfolgreiche Mobilitätswende. Die seit ein paar Jahren eingerichteten Radprofessuren können ein wesentlicher Baustein sein, um das Thema schneller voranzutreiben. Auch die Weltleitmesse Eurobike wird zur Austauschplattform für Kommunen, Politik und Branche, denn der Nationale Radverkehrskongress 2023 wird in Frankfurt zusammen mit der Fahrradmesse stattfinden und kommunalen Vertreter die Möglichkeit geben, enger an die Fahrradbranche heranzurücken. Bei der Finanzierung strebt die aktuelle Bundesregierung eine Erhöhung der Mittel für den Radverkehr an: Bis 2030 sollen laut aktuellem Stand 390 Millionen Euro für Radverkehrsmaßnahmen zur Verfügung gestellt, für 2023 können Fördergelder aus dem Klimaschutzprogramm abgerufen werden. „Die Finanzhilfen werden sehr gut angenommen“, sagt Oliver Luksic (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Digitales und Verkehr. Er weist aber auch darauf hin, dass der Fachkräftemangel bei den Kommunen eine schnellere Beantragung der Fördermittel verhindere.
Änderung doch vor dem Aus?
Bliebe als letzter Punkt das gute Regelwerk. Die bereits genannte und im Koalitionsvertrag festgeschriebene Änderung des StVG sollte zwar zügig umgesetzt werden. Ein breites Bündnis aus Verkehrs‑, Umwelt- und Verbraucherverbänden sowie der Fahrradwirtschaft fordert, die Reform des Straßenverkehrsgesetzes unter den Maßnahmen des Klimaschutzsofortprogrammes klar zu priorisieren. Ihr Anliegen: Nach der Sommerpause müsse Bundesverkehrsminister Wissing einen Reformentwurf vorlegen, damit Ende 2022 das Gesetz verabschiedet werden kann.
Infokasten: StVG und StVO – Was ist der Unterschied?
Häufig werden das Straßenverkehrsgesetz (StVG) und die Straßenverkehrsordnung (StVO) synonym verwendet. Das ist jedoch falsch. Das StVG enthält Ziele, die mit Hilfe der StVO umgesetzt werden. Es ist der Regelungsspielraum für die künftigen Reformen der StVO. Eine Änderung des StVG obliegt dem Bundestag, der ohne Mehrheit des Bundesrates das Gesetz ändern kann. Die StVO hingegen wird durch das Bundesverkehrsministerium unter Zustimmung des Bundesrates erlassen. Sie regelt die Teilnahme am Verkehr und enthält entsprechende Vorgaben für Straßenverkehrsbehörden, Kommunen und Verkehrsplanung. Die genaue Umsetzung regelt die Verwaltungsvorschrift zur Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO). Wichtig: Die nach der StVO zulässigen Maßnahmen zur Beeinflussung des Verkehrs müssen den Zielen entsprechen, die im StVG enthalten sind. Ansonsten sind Klagen und rechtliche Folgen möglich. Das Problem: Aufgrund der engen Vorgaben des aktuellen StVG dient die StVO lediglich der Gefahrenabwehr – und nicht dem Klimaschutz. pd-f/Thomas Geisler
Die Aussagen in Ihrem Artikel sind so nicht korrekt. Es gibt kein Gesetz, das die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs über alles stellt. Im Gegenteil: Dass das in der Form immer noch praktiziert wird und die Flüssigkeit einer einzelnen Verkehrsart (Kfz-Verkehr) über die Sicherheit von Radfahrern und Fußgängern gestellt wird, stellt einen Verstoß gegen die geltende Verwaltungsvorschrift zur StVO dar. Dort heißt es:
„Die Flüssigkeit des Verkehrs ist mit den zur Verfügung stehenden Mitteln zu erhalten. Dabei geht die Verkehrssicherheit aller Verkehrsteilnehmer der Flüssigkeit des Verkehrs vor. Der Förderung der öffentlichen Verkehrsmittel ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen.“
Die Flüssigkeit des Verkehrs ist nicht nur die Flüssigkeit des Kfz-Verkehrs, sondern auch die Flüssigkeit des Fuß- und Radverkehrs. Die Förderung des ÖPNV ist auch explizit in der Vorschrift enthalten.
Auch der Einrichtung von Radfahrstreifen (dazu zählen auch Pop-Up Bikelanes) steht kein Gesetz und keine Verordnung im Wege, denn Radfahrstreifen sind von der Forderung in §45 (9) explizit ausgenommen.
Der Bau von Radwegen ist auch nicht an die Bedingung geknüpft, dass eine besondere Gefahrenlage bestehen muss, sondern nur die Anordnung einer Benutzungspflicht. Wenn man Radfahrer zwingen muss, Radwege zu benutzen, stimmt aber sowieso irgendwas nicht: Entweder ist der Weg nicht sicher benutzbar oder nicht erforderlich und dann darf er auch nicht benutzungspflichtig sein.
Die Anordnung von Tempo 30 wird in der Tat durch §45 erschwert. Um das zu ändern, müsste man aber nicht §45 (9) ändern, sondern §3 (3) 1. und Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit innerorts machen. Die Verkehrsbehörden müssten dann begründen und nachweisen, wenn auf einer Straße auch 50km/h zulässig sind und nicht wie bisher, dass 30km/h zwingend erforderlich sind.