Anfang nächsten Jahres fährt fahren Mercedes-Modelle bis zum Tempo 95 km/h autonom. Es gibt aber wesentliche Einschränkungen.
Das Thema autonomes Fahren ist ein wenig in den Hintergrund gerückt. Dennoch geht die Entwicklung der intelligenten Steuerung weiter. So kann man sich ab Anfang nächsten Jahres in verschiedenen Mercedes-Modellen wie dem EQS den Fahrkünsten des Computers bis 95 km/h anvertrauen, 35 km/h mehr als bisher. Das gilt für Neufahrzeuge ebenso wie für bestehende Stern-Modelle, bei denen die Software elektronisch per WLAN ins Fahrzeug übertragen wird. Klappt das denn?
Wir sind im rund 124.000 Euro teuren elektrischen Topmodell EQS unterwegs. Der Aufpreis für den neuen Drive Pilot von gut 6.000 Euro fällt da nicht wirklich ins Gewicht. Das Ambiente im Inneren der 5,22 Meter Nobel-Yacht für die Straße ist zunächst vertraut. Wenn da nicht die beiden silbernen Drucktasten wären, die in Daumennähe in die Lenkradspeiche eingelassen sind. Auf dem innerstädtischen Berliner Autobahnring passiert erstmal gar nichts. Dreispurig, Tempo 80 und jede Menge Laster auf der rechten Fahrbahn. Also ist Geduld und eigene Lenkarbeit angesagt. Denn der elektronische Chauffeur fahndet mit einer Fülle von Sensoren auf seine Chance zur Übernahme. Für die braucht er eine rechte Spur mit ausreichender Lücke zwischen den dortigen Autos. Und er sucht nach einem rollenden Leittier.
Der EQS-Computer sucht ein Leittier
Im Innenleben des EQS sind all die Strecken im 13.191 Kilometer langen deutschen Autobahnnetz gespeichert und freigegeben, auf denen der Drive Pilot eingesetzt werden kann. Den Autobahn-Abschnitt, der unter dem Namen „Avus“ weithin bekannt ist, gehört dazu. Im dichten Verkehr öffnet sich hier schnell in ausreichendes Fenster für den Wechsel nach rechts. Unbemerkt vom Fahrer fahnden Systeme wie Kameras oder Lidar nach einem Fahrzeug, das den Schrittmacher spielen soll. Erkannt wird in rund 50 Metern Entfernung ein Transporter der Sprinter-Klasse. Er ist mit knapp 90 km/h auf der rechten Spur unterwegs – das passt.
Weißes Licht oberhalb der Griffmulden in der Lenkradspeiche signalisiert die Bereitschaft des Drive Pilot zum Dienstantritt. Jetzt eine der beiden Tasten drücken. Die Leuchtanzeige wechselt zu türkis, der Fahrer ist ab sofort ebenso Passagier wie ein Fluggast in der ersten Klasse. Der leistungsstarke Bordrechner hält den EQS zwischen den weißen Spurmarkierungen gefangen, sucht sich die passende Entfernung zum Vordermann und beginnt die friedliche Verfolgung des Transporters. Seltsame neue Welt: Für einen 265 kW/360 PS-Mercedes ist die rechte Spur nach landläufiger Sicht nicht das übliche Terrain. Der Chef im Ring lenkt und beschleunigt oder bremst in der verborgenen Schaltzentrale irgendwo im Innenleben. Der lässt sich nicht verleiten, einem Dacia oder einem Smart auf der Mittelspur ans Blech zu rücken, bleibt immer gelassen und betont entspannt.
Der Alarm schreckt dann hoch
Dann plötzlich Alarm. Das Licht der Tasten wird erst gelb dann rot, der Gurt zuckt am Schlüsselbein, ein Signalton fordert den relaxten Menschen zur sofortigen Rücknahme der Verantwortung auf. Der Grund ist simpel. An der nächsten Ausfahrt namens Hüttenweg führt die rechte Spur von der Autobahn weg ins normale Stadtleben. Kollege Drive Pilot spielt da nicht mehr mit, der Chef aus Fleisch und Blut soll doch bitte Spurwechsel und Einfädeln selbst absolvieren. Aus dem dicken Stromer wird wieder ein normales Luxusauto. Hinter der früheren Kontrollstelle Dreilinden, wo einst Transitreisende angstvoll das Gebiet von Westberlin gen Westdeutschland verließen, ist es wieder dreispurig. Die Suche nach einem Leittier beginnt erneut.
Dieses Verfolgungssystem ist nur eine von diversen Einschränkungen, mit denen der Besitzer eines solchen Autos leben muss. Nachts oder in Tunneln funktioniert der Drive Pilot ebenso wenig wie bei Regen oder dichtem Nebel. Auch für die Art von Entspannung auf dem Fahrersitz gibt es strenge Regeln, die je nach Land unterschiedlich sein können. Einschlafen ist verboten, ein wachsames Kameraauge würde bei geschlossenen Augen unverzüglich Alarm schlagen. Nicht unentdeckt bliebe auch die Idee des Fahrers, den Rücksitz für das Nickerchen zu nutzen. Lobenswert ist ein System, das herannahende Rettungs- oder Feuerwehrfahrzeuge ebenso erkennt wie eine demnächst drohende Baustelle. Auch hier steigt das Mercedes-System mit Vorwarnung aus, bringt das Thema Rettungsgasse ins Gespräch.
Wesentliche Einschränkungen
Mercedes sieht die Premiere des 95-km/h-Piloten als wichtigen Zwischenschritt. Ende des Jahrzehnts sollen 130 km/h möglich sein. Ein Tempo, das dann ohnehin auf deutschen Autobahnen wohl die Regel sein wird. In der Endstufe dieses Level 3 werden dann 30 Sensoren aller Art, darunter auch ein von Satelliten gefüttertes System zur genauen Positionierung des Standortes für Sicherheit sorgen.
Bleibt die Frage, ob den Mercedes-Kunden die immer noch begrenzen Möglichkeiten des heutigen Drive Pilot der tiefe Griff in die Familienkasse wert sein wird. Wobei sich die Stuttgarter auch um heute verbreitete Systeme und deren Verbesserung kümmern. So ist dank eines Updates das automatische Einparken künftig doppelt so schnell wie bisher möglich. Dessen Geschwindigkeit steigt von 1 auf zwei km/h. Peter Maahn/SP-X
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