Den Blick in die (nähere) Zukunft gewährte Mercedes in Tokio. Der EQS soll schon in zwei Jahren auf den Markt kommen – und versetzt schon heute in Staunen.
Gestern, heute, morgen – auf einem Trip nach Tokio kann einem das Zeitgefühl schon einmal abhandenkommen. Erst recht, wenn am Ende der Reise kein Toyota-Taxi wartet, sondern auf dem Parkplatz mitten im Nirgendwo plötzlich der Mercedes Vision EQS auftaucht: Denn obwohl dieses erst vor ein paar Wochen auf der IAA in Frankfurt enthüllte Schaustück ganz real ist, im Hier und Heute steht und sich der nieselgraue Himmel auf dem blanken Lack spiegelt, wirkt er seltsam unwirklich und wie aus einer anderen Zeit. Kein Wunder. Schließlich ist der stolze 5,30 Meter lange Luxusliner ja auch ein Bote aus der Zukunft, der die Mercedes-Kundschaft auf die erste elektrische Luxuslimousine aus Stuttgart einstimmen soll.
Während die halbe Mercedes-Mannschaft gerade mit Hochdruck an der neuen S-Klasse arbeitet, die bereits im nächsten Jahr kommen soll, arbeitet die andere am EQS, der ein Jahr später das Rennen gegen Porsche Taycan, Audi E-Tron GT und allen voran das Model S von Tesla aufnehmen soll. Und anders als GLC und E C sollen die beiden Luxusliner diesmal außer dem Anspruch auf die Spitzenposition im jeweiligen Segment wenig gemein haben. Nicht umsonst entwickelt Mercedes für den EQS und alle kommenden E-Autos deshalb eine komplett neue Architektur, die sich die Vorteile der E-Mobilität voll zunutze machen und deshalb zum Beispiel ein deutlich besseres Package bieten will.
Hunderte von LEDs
Aber S-Klasse und EQS werden sich nicht nur bei der Technik unterscheiden, sondern vor allem bei der Form. Während das etablierte Flaggschiff eher klassisch und damit konservativ auftritt, hat Designchef Gorden Wagener für den EQS einen völlig neuen Stil gefunden: Statt des traditionellen Stufenschnitts setzt er auf einen einzigen Bogen, der die gesamte Silhouette definiert und verzichtet darunter auf nahezu alle Linien, Sicken und Kanten. Und als wäre das nicht schon neu genug, garniert er das mit einer Beleuchtungskonzept, das seines gleichen sucht.
Mit Hunderten von LED kämpft der EQS deshalb gerade gegen die aufziehende Dunkelheit und wirkt im konturlosen Grau nach dem Abzug eines kleinen Taifuns hier in Tokio nur noch unwirtlicher. Die Scheinwerfer mit ihren rotierenden Linsen schicken eher Hologramme als Lichtkegel in die Dämmerung, hinter dem schwarz verglasten Grill funkeln zahllose Lichtpunkte. Statt konventioneller Rückleuchten haben die Designer über 200 glühend rote Mercedes-Sterne in den Heckdeckel geschnitten, und ein filigranes LED-Band entlang der Nahtlinie der Zweifarblackierung hält alles zusammen.
Es gibt keine Schalter und Anzeigen mehr
All das kennen wir schon aus Frankfurt, doch hier in Tokio bittet Mercedes zu einer Art Timewarp und man muss dafür nicht einmal herumhüpfen wie bei der Rocky Horror Show. Ein kleiner Schritt nach rechts reicht, dann sitzt man bereits hinter dem Steuer und kommt aus dem Staunen kaum mehr heraus. Denn so opulent die elektrische Alternative zur S-Klasse von außen wirkt, so schlicht ist sie innen: Digitale Entgiftung nennen die Designer als Leitmotiv und sprechen gerne von einem „hyperanalogen“ Interieur, wenn sie die erschreckende leere Landschaft aus Lack und Leder beschreiben. Es gibt keine Schalter mehr und keine Anzeigen und auch die üblichen Bildschirme sucht man vergebens. Selbst das Lenkrad fällt dieser Idee zum Opfer, wird oben coupiert und macht sich deshalb ganz, ganz klein.
Doch keine Sorge, die Besserverdiener von Morgen sind nicht disconnected und auch nicht von der digitalen Welt abgeschnitten. Der ungewöhnlich flache Schwebebalken vor der ersten Reihe ist nicht nur eine Augenweide, sondern auch eine Art Leinwand, auf die Mercedes alle Anzeigen und Bedienelemente projiziert, wann und wo immer sie gerade benötigt werden. Und damit derweil niemand ein schlechtes Gewissen plagt, gibt es ein nachhaltiges Materialkonzept mit Holz aus heimischen Wäldern, Dekorstoffen aus maritimem Plastikmüll, artifiziellem Leder und Mikrofasern aus recycelten PET-Flaschen.
Während die Designer am großen Rad drehen und ihrer Phantasie freien Lauf lassen, ist die Technik unter der spektakulären Hülle vergleichsweise bodenständig – aber dafür konsequent. Nachdem Mercedes bislang nur konventionelle Plattformen umgerüstet hat, leisten sich die Schwaben zum ersten Mal eine dezidierte Elektroarchitektur und können alle Packaging-Vorteile nutzen: Die Überhänge werden kürzer und der Innenraum bietet entsprechend mehr Platz und anders als der EQC hat der Vision EQS auch keinen Hängebauch mehr, der Akku verschwindet tatsächlich komplett im Wagenboden.
700 Kilometer Reichweite und mehr
Dabei ist er größer denn je. Denn um adäquate Fahrleistungen zu bieten, wird bei Mercedes mal wieder geklotzt statt gekleckert. 100 kWh soll die Batterie mindestens haben, stellen die Entwickler in Aussicht und versprechen eine Reichweite von über 700 Kilometern. Und weil theoretisch mit 350 kW geladen wird, sind die Zellen binnen weniger als 20 Minuten zu 80 Prozent voll. So schnell wie beim Laden ist die Vision EQS auch beim Fahren: Mit knapp 500 PS und bald 800 Nm beschleunigt der voll variable Allradantrieb in weniger als 4,5 Sekunden auf Tempo 100 und erlaubt mehr als 200 km/h.
Zumindest in der Theorie. In der Praxis dagegen bewegt sich der Vision EQS ausgesprochen langsam und vorsichtig und tastet sich auf seinen gewaltigen 24 Zöllern eher voran als dass er wirklich fahren würde. Dabei wirkt er ein wenig hölzern und unhandlich, was dem händischen Aufbau und dem schlichten Fahrwerk der Studie geschuldet ist. In der Serie dagegen wird eine Hinterachslenkung den Wendekreis schrumpfen lassen und eine Luftfederung samt Wankausgleich mit 48 Volt-Technik die Insassen wie auf Wolken betten.
Aus Holz werden Wolken
All das erfährt man bei der Zeitreise am anderen Ende der Welt, während die Begleiter nervös an den Himmel schauen. Denn schon ziehen wieder Regenwolken auf, das Grau verschluckt die Szenerie und ehe man es sich versieht, ist das Showcar sicher im trockenen Lastwagen verstaut. Der Parkplatz, auf dem man eben noch durch die Zeit gereist ist, liegt leer und verlassen da und der Betrachter reibt sich verwundert die Augen – gestern, heute, morgen – einmal mehr hat man in Tokio sein Zeitgefühl verloren. Doch keine Sorge – spätestens in zwei Jahren ist die innere Uhr wieder im Takt – dann steht das Serienauto zur Testfahrt bereit. SP-X
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