Zwar ist eCall seit drei Jahren vorgeschrieben, eine große Hilfe zum Leben retten ist das Notrufsystem bislang aber nicht. Warum?
Seit rund drei Jahren ist das automatische Notrufsystem eCall für neue Pkw-Typen vorgeschrieben. Bei einem Unfall übermittelt es die Fahrzeugposition und andere wichtige Daten an die Rettungskräfte – hilfreich vor allem, wenn die Insassen selbst dazu nicht in der Lage sind. Seine gewünschte Wirkung kann der elektronische Helfer aber heute immer noch nicht voll entfalten. Die Hindernisse dabei sind nicht ausschließlich technischer Natur.
Die Ursprünge von eCall reichen bis in die 1980er-Jahre zurück, als AEG-Telefunken und die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) ein Auto-Notrufsystem entwickelten, das als Ergänzung zu den damals zahlreichen Notrufsäulen gedacht war. Die Idee: Dank schnellerer Unfallmeldung und besserer Lokalisierbarkeit der Havarierten sollten Menschenleben gerettet oder gesundheitliche Unfallfolgen zumindest abgemildert werden.
Hersteller umgehen die Einbaupflicht
Nicht zuletzt wegen hoher Infrastruktur- und Ausstattungskosten konnte sich die Idee damals jedoch nicht durchsetzen. Erst die Ausbreitung des Mobilfunks sorgte im neuen Jahrtausend für neuen Schwung, der schließlich dazu führte, dass die EU einen verpflichtenden Einbau beschloss. Der allerdings verzögerte sich bis April 2018 – und gilt seitdem außerdem nicht für alle Neuwagen, sondern nur für neue Pkw-Typen.
Genaue Zahlen zur Verbreitung von eCall in Deutschland gibt es nicht. Der Automobilclub ADAC fürchtet aber noch Ende 2019, dass bisher nur die wenigsten Fahrzeuge über das System verfügen. Offenbar umgehen viele Hersteller bislang die Einbaupflicht, indem sie für neue Fahrzeugmodelle nur die Betriebsgenehmigung von Vorgängermodellen fortschreiben, so dass sie nicht zu einer Ausstattung mit dem europäischen Notruf verpflichtet sind. Ein nicht unüblicher Vorgang, der den Herstellern Zeit und Geld für Neuzertifizierungen spart, im Nebeneffekt aber auch die Umsetzung neuer Regelungen verzögert.
Problem 1: die technischen Beschränkungen
Dass die Zahl der bislang genehmigten Fahrzeugtypen mit eCall eher gering ist, legen auch Daten des Kraftfahrt-Bundesamts (KBA) nahe, die die Bundesregierung Mitte 2020 auf Nachfrage des Parlaments veröffentlicht hat. Demnach hatten die deutschen Autohersteller seit April 2018 gerade einmal 24 neue Typgenehmigungen für Pkw-Modelle mit dem Notrufsystem beantragt. Bis für ein Auto eine neue Typgenehmigung fällig wird, vergehen schon mal zwei Modellgenerationen, was durchaus anderthalb Jahrzehnten entsprechen kann.
Dass die Konzerne in Sachen eCall eher zögerlich sind, dürfte auch mit den technischen Beschränkungen des Notrufsystems zu tun haben. Unter anderem arbeitet es noch mit 2G und 3G-Technik, während der Mobilfunk bereits bei 5G ist und der alten Funk-Infrastruktur perspektivisch die Abschaltung droht. Zudem erfolgt die Übertragung der Daten bei eCall analog, was im digitalen Zeitalter nicht nur ein Anachronismus ist, sondern auch viel länger dauert. Eine simple Umstellung von 4G- oder 5G, etwa durch den Tausch der SIM-Karten, erlaubt die eCall-Spezifikation nicht. Das Problem ist auch der Politik bekannt, die an einer Modernisierung des Standards arbeitet. Entsprechen wenig attraktiv ist es für die Industrie aktuell, den Einbau des Notrufsystems der heutigen Bauart in ihren Modellen zu forcieren.
Problem 2: der Datenschutz
Generell ist das Interesse der Branche an Vernetzung zwar groß. Weil aber bei der Diskussion um die Einführung große Datenschutzbedenken laut wurden, ist die Menge und Art der erhobenen und gesendeten Daten bei eCall extrem gering. So gering zumindest, dass die Autohersteller die Technik nicht als Basis für ihre eigenen Konnektivitäts-Bemühungen nehmen wollten. Sie zogen stattdessen vernetzte Systeme auf, die technisch leistungsfähiger, deutlich smarter und vielfältiger sind. So sollen sie etwa mit Echtzeit-Verkehrsdaten, automatischen Software-Updates oder Parkplatzfinder-Diensten die zunehmend digital interessierte Kundschaft locken. Auch eine Notruffunktion ist meist integriert – allerdings eine, die in der Regel vergleichsweise langsam und umständlich arbeitet.
Anstatt bei einem Unfall direkt die Rettungsleitstelle unter der Nummer 112 zu informieren, stellten die Herstellersysteme zunächst eine Verbindung zu ihrem eigenen Callcenter her, betrieben meist von einem externen Dienstleister. Erst der Telefonist alarmiert dann Krankenwagen oder Feuerwehr. Das kostet Zeit und ist fehleranfällig, etwa wenn Positionsdaten mündlich falsch weitergegeben werden. Zwar schreibt das Gesetz neben dem Herstellersystem auch die offizielle E-Call-Technik an Bord vor, doch diese muss vom Halter bewusst frei geschaltet werden, damit das Herstellersystem umgangen wird. Die wenigsten Autofahrer werden sich wohl die Mühe machen. Der ADAC fordert aus diesem Grund, den 112-eCall im Auto defaultmäßig voreinzustellen. Dann müsste das beim Notruf langsame Herstellersystem bewusst aktiviert werden.
Problem 3: eigene Lösungen
Ein Sicherheitsgewinn durch die eCall-Einführung lässt sich im Straßenverkehr bislang jedenfalls nicht beobachten. Potenziell sollte die Technik die Zahl der Verkehrstoten pro Jahr um zehn Prozent sinken lassen, so die Hoffnungen bei Einführung. Die Straßenverkehrsunfallstatistiken 2018 und 2019 zumindest zeigten noch keine starken Effekte. Laut Statistischem Bundesamt lag die Zahl der tödlich verunglückten Pkw-Insassen im Jahr 2018 um 0,7 Prozent unter dem Vorjahreswert, 2019 sank die Zahl um weitere 4 Prozent. „Ob und in welchem Maße diese Entwicklung auf die Einführung der eCall-Systeme zurückzuführen ist, kann anhand der amtlichen Statistik nicht festgestellt werden“, antwortete die Bundesregierung vor rund einem Jahr auf eine entsprechende Anfrage des Parlaments. Auch die Corona-Jahre 2020 und 2021 dürften in dieser Hinsicht keine weiteren Erkenntnisse bringen, weil das geringere Verkehrsaufkommen die Statistik verfälscht.
Bis jedem Unfallopfer im Auto schnell und automatisiert geholfen wird, wird es also noch Jahre dauern. Wer selbst die Vorteile von eCall nutzen will, sollte beim Autokauf ein entsprechendes Fahrzeugmodell wählen und den gesetzlichen 112-Notruf auch als Standard festlegen. In älteren Pkw lässt sich ein Unfallmelder nachrüsten, meist per Funkstecker für den ODB-Anschluss. Dafür werden allerdings im Gegensatz zum offiziellen eCall in der Regel Abokosten fällig. Zudem alarmieren die Systeme ebenfalls nicht immer die 112, sondern verbinden den Autofahrer zunächst mit einem eigenen Callcenter. Aber auch das kann im Ernstfall die Rettung sein. Holger Holzer/SP-X/Titelfoto: Bosch
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